Münchner Merkur vom 10.03.23


Wer bin ich?

Das Heldentheater zeigt Albert Ostermaiers „Vatersprache“

 

VON ALEXANDER ALTMANN

 

Ein Mann probiert Väter an wie andere Leute Anzüge anprobieren. War sein Vater vielleicht ein Nazi? Ein Arzt etwa, der Menschen in „wertes“ und „unwertes“ Leben eingeteilt hat? Oder gehörte der Vater womöglich zur Generation der antiautoritären Eltern, die ihren Kindern keine Vorschriften machten, aber zuweilen damit auch nur ihr Desinteresse am Nachwuchs tarnten? Eine dritte Möglichkeit: Der Vater war ein Sympathisant der RAF und wäre damals, in den Siebzigern, „beinahe in den Untergrund gegangen“. Aber auch das bleibt reine Theorie.

 

Denn Wolf, so heißt der selbst schon ergraute Sohn mit Vornamen, hat seinen Vater nie kennengelernt. Nicht mal ein Foto von ihm besitzt er und weiß darum auch nicht, ob er ihm ähnlich sieht. Jetzt ist der Vater gestorben, und der Sohn, der nach einer Kindheit in Deutschland schon lange im Ausland lebt, ist kurz in die alte Heimat zurückgekehrt.

 

Da sitzt er nun im Abschiedsraum des Bestattungsinstituts, vor dem tief violetten Vorhang, neben der brennenden Kerze sowie den weißen Blumen in der Vase (Regie und Ausstattung: Andreas Berner). Den Trenchcoat zieht Wolf gar nicht aus, weil er ja gleich mit dem nächsten Flieger wieder weg will.

 

Die Urne des Vaters hat er auf einen Stuhl gestellt und hält Zwiesprache mit dem Unbekannten – aber zugleich mit sich selbst, im Versuch, herauszufinden, wer er, der Sohn, eigentlich ist. Denn wer keinen Vater hat, kann sich weder mit ihm identifizieren, noch gegen ihn rebellieren und auf die eine oder andere Weise Identität entwickeln.

 

Wem das zu küchenpsychologisch klingt, der muss wissen, dass das Monologstück „Vatersprache“ (2002), um das es hier geht, von Albert Ostermaier stammt, und dieser erfolgreiche Münchner Autor spielt bekanntlich ganz bewusst mit Klischees, der konfektionierten Verpackung einer entkernten Realität. Weshalb natürlich auch die verschiedenen Väter, die der Sohn im Stück „anprobiert“, quasi von der Stange sind.

 

Umso bewundernswerter, wie es bei dieser Neuinszenierung des Münchner Heldentheaters im Einstein Kultur dem Solisten Thomas Stumpp gelingt, die Balance zu halten zwischen dem ausgestellten Pathos des Textes und einer fragilen Figurenzeichnung. Sein Wolf bleibt, auch oder gerade wenn er gelegentlich eine Wolfsmaske aufsetzt, der klassische „Mann ohne Eigenschaften“ – und damit ein wirklich tragischer Held. Was ja ausgezeichnet zum Münchner Heldentheater passt, das heuer sein zehnjähriges Bestehen in der Freien Szene feiert. Herzlicher Applaus.